Die Wahl zwischen Kalt- und Warmumformung in Serienanwendungen wird in der industriellen Praxis nicht primär über Physik oder Mikrostrukturgetroffen, sondern über geforderte Funktion des Bauteils, Kostensensitivität pro Stück und die Validierbarkeit in der definierten Toleranz.
Physikalische und werkstoffliche Grundlagen
Temperatur und Rekristallisation
Kaltumformung findet bei Raumtemperatur oder ohne zusätzliches Erwärmen statt. Das Material bleibt dabei unter der Rekristallisationstemperatur. Die höhere Festigkeit entsteht durch die Kaltverfestigung während der Verformung.
Bei der Warmumformung wird der Werkstoff zunächst über die Rekristallisationstemperatur erhitzt. Danach wird er beim Abkühlen knapp darunter umgeformt, sodass das Material, währenddessen rekristallisieren kann und gut verformbar bleibt. In der industriellen Warmumformung pressgehärtbarer Stähle liegen die Umformtemperaturen typischerweise im Fenster von etwa 800–930 °C. Beim anschließenden schnellen Abkühlen bildet sich Martensit, was die hohe Endfestigkeit erzeugt.
Fließverhalten, Duktilität und Umformwiderstand
Im kalten Zustand ist der Werkstoff hochfest und „steif“ gegen Verformung. Die Fließspannung liegt höher, der Umformwiderstand steigt, Rückfederung ist signifikant. Gleichzeitig erzeugen Kaltverfestigungseffekte lokal höhere Festigkeiten im Bauteil, reduziert jedoch Duktilität.
Im warmen Zustand sinkt der Umformwiderstand. Warm geformte Werkstoffe werden durch die Temperatur duktil, lassen sich tiefer ziehen und komplexer formen. Rückfederung ist geringer. Bei pressgehärteten Bauteilen kann durch die kontrollierte Abschreckung eine martensitische Mikrostruktur mit hohen Endfestigkeiten etabliert werden. Die Festigkeitsentwicklung erfolgt hier nicht durch Umformarbeit, sondern durch thermisch induzierte Phasenumwandlung.
Mikrostrukturzustände und Stabilität
Kaltumgeformte Bauteile behalten ihre kaltverfestigte Struktur. Warmumgeformte und pressgehärtete Bauteile weisen nach dem Prozess definierte martensitische oder feinkörnige Strukturen auf, die aus der Wechselwirkung von Temperaturprofil und Abkühlrate resultieren.
Energiebedarf, Prozessführung und Auswirkungen auf das Gesamtsystem
Die Grenze zwischen Kalt- und Warmumformung wirkt sich nicht nur im Material selbst aus. Sie entscheidet auch praktisch, wie viel Energie und Kraft man braucht, wie stark die Werkzeuge beansprucht werden und wie aufwendig die ganzen Nebenprozesse sind.
Energie- und Kraftbedarf
Kaltumformung benötigt keine dedizierte thermische Vorbehandlung. Der Energieeintrag erfolgt primär mechanisch über Presskräfte und Umformarbeit. Daraus resultieren teils mehrstufige Umformfolgen, um lokale Dehnungen zu verteilen.
Warmumformung bedeutet: Erst viel Energie zum Aufheizen, dann trotzdem noch ordentlich Kraft beim Umformen. Darum sind Öfen, Transfertechnik und eine gute Prozessregelung fester Teil des ganzen Ablaufs.
Werkzeugbelastung und Prozessintegrität
Kaltumformwerkzeuge erfahren hohe Kontaktpressungen, Abrieb und potenzielle Kaltverschweißungseffekte. Standzeit und Beschichtungsstrategien müssen auf diese Lastart abgestimmt sein.
Warmumformwerkzeuge werden thermisch zyklisch belastet. Sie müssen hohe Temperaturwechsel aushalten und gleichzeitig Toleranzen halten (Aufheizen durch Material, Abkühlen durch interne Kühlung beim Presshärten). Materialwahl, Beschichtung, Kühlung und Dichtkonzepte sind zentrale Stabilitätshebel. Bei pressgehärteten Prozessen ist daher ein kontrollierter Wärmeabtransport zu realisieren, da die Abkühlraten den martensitischen Gefügeanteil bestimmen. Die simultane Anforderung an Temperaturbeständigkeit und Maßhaltigkeit prägt die Konstruktion.
Rückfederung, Maßhaltigkeit und Folgeoperationen
Kaltumgeformte Bauteile zeigen aufgrund höherer Spannungszustände ausgeprägtere Rückfederung. Kompensation und iterative Werkzeugkorrekturen sind meist notwendig.
Warmumgeformte Bauteile weisen geringere Rückfederung auf, da der Werkstoff im Duktilitätsfenster umgeformt wird und beim Abschrecken im Werkzeug erstarrt. Durch die bessere Maßgenauigkeit sind die Trimm- und Kalibrierarbeiten nach dem Umformen oft weniger umfangreich.
Anwendungsfelder und Geometrien
Bauteiltypen und funktionelle Randbedingungen
Kaltumformung adressiert dünnwandige Blechbauteile mit hohen Stückzahlen, wenn die Geometrie mit hoher Kraft, jedoch ohne thermische Konditionierung herstellbar ist. Sie punktet bei Kosten, Takt und Verfügbarkeit. Klassische Beispiele sind Außenhautkomponenten, Verstärkungsbleche und Strukturteile mit moderatem Tiefziehgrad.
Kaltumformung zusammengefasst:
- weit verbreitet in hochvolumigen Serien mit dünnen Blechdicken
- häufig in nicht crashkritischen, aber strukturell relevanten Segmenten
- Außenhautbereichen mit Toleranzanforderungen für Optik
- Verstärkungs- und Verbindungselemente mit moderatem Tiefziehbedarf
- Bauteile, bei denen Rückfederung beherrschbar oder kompensierbar ist
- Fälle mit geringem thermischen Logistikbedarf und kurzer taktzeitgetriebener Infrastruktur
Warmumformung wird eingesetzt, wenn Leichtbau, Crashperformance und Formkomplexität die Grenzen der Kaltumformung übersteigen. Typische Bauteile im Automobilbereich sind A-/B-Säulen-Verstärkungen, Dachrahmen, Schweller- und Stoßfängerstrukturen mit pressgehärteten Stählen, die Crashenergie gezielt aufnehmen.
Warmumformung zusammengefasst:
- Bauteile mit Zielversagen im Crash (Energiewandel in definierter Zone)
- Strukturen mit komplexen Formgeometrien, die kalt auslastungslimitiert wären
- Bereiche mit geforderter hoher Festigkeit nach Umformung
- Crashrelevante Säulen- und Rahmenstrukturen aus pressgehärtbarem Stahl
- Anwendungen, bei denen geometrische Stabilität im Werkzeug-Endstand kritischer ist als Prozessenergie
Kostenaspekte
Bei den Kosten gibt es kein Verfahren, das grundsätzlich immer günstiger ist. Die Unterschiede entstehen eher dadurch, wo im Prozess die Hauptkosten liegen und wie sie sich verschieben.
Kaltumformung:
- hohe mechanische Kräfte und daraus ableitbare Werkzeuganforderungen
- Standzeit- und Beschichtungskosten bei abrasiven und adhäsiven Belastungen
- potenzielle Mehrstufigkeit des Umformfolgenplans zur Dehnungsverteilung
- geometrische Kompensation von Rückfederung über Werkzeugkorrekturen
- marginale thermische Betriebskosten
Warmumformung:
- thermische Infrastruktur (Öfen, Transfersystem, Haltezeiten)
- Integration von Prozesskühlung im Werkzeug (Abschreckfunktion bei PHS)
- temperaturstabile Werkzeugmaterialien und zyklische Wärmebelastung
- energetischer Betrieb der Thermik über die Taktdauer
- reduzierte Rückfederung mit potenziell geringerem Korrekturaufwand in Folgeoperationen
Diese Faktoren wirken nicht isoliert, sondern in Kombination mit Stückzahlen, Bauteilkomplexität und Validierungsaufwand in Serienumgebungen.
Entscheidungskriterien in der Praxis
In der Serienproduktion kombiniert man technische, wirtschaftliche und infrastrukturelle Fragen:
- Welche Funktion erfüllt das Bauteil?
- Welche Geometrie und Festigkeit werden benötigt?
- Welche Anlagen und Werkzeuge sind verfügbar?
- Wie hoch sind die Stückzahlen?
- Wo liegen die größten Kostenhebel – mechanisch oder thermisch?
Am Ende entsteht die Entscheidung aus dem Zusammenspiel all dieser Punkte: aus Bauteilfunktion, vorhandener Infrastruktur und einer realistischen Kosten- und Risikobetrachtung – nicht aus einem einzigen Faktor.
Die Wahl der Umformart ist daher kein Glaubenssatz, sondern ein Abgleich von Funktion, Geometrie, Losgröße, Supply-Chain-Kosten, Werkstoffstrategie und Crashziel.
Am Ende entscheidet die Frage: Was verlangt das Bauteil – und welches Verfahren liefert dafür die beste Lösung?